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aufzugeben. Wir werden gelegentlich sehen, warum er es vermutlich nicht that. Zum Schluffe darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Walpurgisnacht, jenes den englischen, allegorischen Maskenspielen nachgebildete Intermezzo, mit unserem Drama eigentlich gar nichts zu thun hat. Ursprünglich für die Xenien bestimmt, wurde es später vom Dichter hier eingeschoben. Dies erklärt auch seinen unter allerlei Mummenschanz versteckten, rein kritisch-satirischen Inhalt. Daß es sich an Shakespeare's „Sommernachtstraum“ anlehnt, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden.

Werfen wir nun die Frage auf, ob der Ausgang der Handlung moralisch begründet ist und auf den Zuschauer ethisch wirkt, so mag für Hamlet die Antwort wohl bejahend sein, obgleich er viel weniger schuldig war als Faust; für letteren aber kann die Wirkung auf das Gemüt der Zuschauer keine befriedigende sein, und das ist ja das beste ästhetische Kriterium; denn was nicht ethisch wirkt, kann unmöglich ästhetisch wirken. Goethe mußte aber, wie bereits gesagt, diese Lösung herbeiführen, um im 2. Teile die Geistesgeschichte des Helden durch die vollständige Entwickelung seines Charakters zum Abschluß zu bringen.

Es sei hier noch darauf hingewiesen, daß, infolge der häufigen Monologe und der im Faust noch häufigeren Chöre, die dramatische Kraft der Handlung nicht ganz unbeschädigt bleibt. Jene Monologe finden teilweise ihre Entschuldigung wieder darin, daß sie dem Dichter die beste Gelegenheit boten, uns seine eigenen Anschauungen, so wie den jeweiligen Geisteszustand des Sprechers klar zu Gemüte zu führen. Endlich will ich nicht unerwähnt lassen, daß, obgleich beide Dichter protestantisch sind, Goethe's Faust ganz katholisch ausklingt, und auch Shakespeare's Hamlet katholische Anklänge enthält. Aus diesem Umstande auf irgend eine Neigung der beiden Dichter zum Katholizimus zu schließen, wäre eine ganz irrtümliche Auffassung; denn sie waren beide, vom eigentlich religiösen Standpunkte aus, nicht nur keine protestantischen, sondern sogar keine christlichen Dichter.

Charaktere.

A. Hamlet und Fauft.

Wie die Sage den Faust, so läßt Shakespeare seinen Hamlet in Wittenberg, damals wohl, infolge der Reformation, die in England bekannteste deutsche Universität, studiren. Man hat oft dem Thatendrange Faust's den Mangel an Thatkraft Hamlet's gegenüber gestellt und ist sogar so weit gegangen, letteren zu einem völlig unentschlossenen, sogar feigen Charakter zu stempeln. Nichts scheint mir weniger begründet. Ein Mann, der in einer Zeit tiefen Aberglaubens, einem Gespenst kühn entgegentritt, ihm sogar in die Einsamkeit folgt; der allein auf ein Raubschiff hinüberspringt, ist kein Feigling. Ein Mann, der einen Höfling ersticht, weil er ihn für den König hält, zwei Gefährte in den Tod schickt und zuletzt den König selbst niederstößt, ist kein moralischer Schwächling. Der Vorwurf, daß er seine Zeit in müßigen Gesprächen verliert, scheint mir auch nur teilweis begründet: Hamlet ist eben kein Hißkopf, wie Faust, sondern ein ruhiger, besonnener Charakter, welcher ohne Ueberstürzung und mit vollständiger Selbstbeherrschung seinen eigenen Weg geht, überzeugt, daß der König ihm nicht entrinnen kann, unbekümmert um sein eigenes Leben, das ihm ja „keinen Stecknadelkopf wert ist", und nur die günstige Gelegenheit abwartend, um vollständige Vergeltung zu üben. Es wäre allerdings besser, wenn dies alles im Stücke selbst als Motivierung mehr hervorträte; jedenfalls darf man aber nicht zu viel Gewicht auf Hamlet's Selbstanklagen legen, nennt sich doch auch Melchthal im Tell einen Feigling und Elenden; und am sogenannten Handeln fehlt es bei Hamlet auch nicht, da sich wahnsinnig

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stellen auch ein Handeln und sogar ein sehr intensives ist. Wenn eine Anklage wegen Feigheit zu erheben wäre, so müßte sie viel eher gegen Faust gerichtet werden, welcher das unglückliche Opfer seiner Leidenschaft im legten Augenblick ihrem Schicksal überläßt und sich durch die Flucht in Sicherheit bringt. Und welche erbärmliche, niederträchtige Rolle läßt ihn Goethe nicht im Zweikampf mit Valentin, dem ehrlichen und tapfern Bruder Gretchen's, den er meuchlings niederstößt, spielen! Hat Goethe nicht wahrgenommen, daß Faust hier den letzten Funken jeder edlen Regung verleugnet und sich selbst zum vollständigen Wüstling und Bösewicht stempelt? Oder wollte er zeigen, wie tief, unter Umständen, auch der Beste von uns fallen kann, wenn er sich seinen Leidenschaften überläßt? Wäre es nicht möglich gewesen, den Meuchelmord Valentin's zu umgehen oder denselben wenigstens von Mephistopheles ausführen zu lassen? Es lag allerdings eben in der Rolle des Mephistopheles, den Faust zu verderben; daher auch jenes: „Stoß zu", das er ihm mitten im Kampfe zuruft, während er selbst den unglücklichen Valentin beschäftigt; sowie jenes Lied, das er vor Gretchen's Fenster zur Zither singt und das, einem Liede der Ophelia im Hamlet (IV, 5) nachgebildet, die Schuld von den Schultern des Mannes auf diejenigen des Weibes wälzt. Besonders aber im Benehmen der beiden Helden, ihren Geliebten gegenüber, liegt der schroffste Gegensatz. Während der genußsüchtige Faust, nach kurzem Kampfe mit sich selbst, nur der Befriedigung seiner finnlichen Gelüste nachgeht und, nachdem er Gretchen ins Unglück gestürzt, wohl noch einen Versuch macht, sie zu retten, dabei aber die eigene Haut nicht außer acht läßt; bricht der enthaltsame Hamlet mit Ophelia vollständig ab, sobald ihm die große und gefährliche Aufgabe, seinen Vater zu rächen, geworden ist. Wollte er seine Geliebte nicht mit sich in ein immerhin mögliches Mißgeschick hineinreißen? Dachte er vielleicht mit W. Scott: Women are but toys to amuse our lighter hours" (die Frauen sind nur Spielzeuge, um unsere müßigen Stunden zu ergößen)? Allerdings, wenn Hamlet der Ophelia und den Frauen überhaupt den Vorwurf machen konnte: „Ihr schminkt Euch, Ihr nehmt einen affektierten Gang und gezierte Redensarten an u. s. w., so war jener Gedanke nicht so ganz ohne Begründung und derselbe wird sich auch heute noch um so mehr bewahrheiten, jemehr die Frauen, anstatt ihre Gedanken auf ernste Sachen, auf ihren wirklichen Beruf als Hausfrauen und, vermöge einer angemessenen Bildung, die sie zu einem anregenden und verständnisvollen Gedankenaustausch mit dem Manne befähigt, als Gefährtinnen desselben zu richten, die Puß- und ähnliche Angelegenheiten zur Hauptaufgabe ihres Lebens machen. Dies entschuldigt jedoch Hamlet's hartes, ja geradezu grausames Benehmen der Ophelia gegenüber nicht. Der Mutter konnte er sich unbarmherzig zeigen, da sein Herz, nicht ohne Grund, voller Bitterkeit gegen sie war. Ophelia hatte aber nichts gegen ihn verbrochen; denn jene kleine Lüge, in Bezug auf ihren Vater, berechtigte keineswegs die rohen Verwünschungen, die er sich zu Schulden kommen ließ. Es wirst sich überhaupt hier die Frage auf, ob Hamlet wirklich Ophelia geliebt hat. Sein Billet an sie sagt: „Ja“; was beweist aber ein solches Billet von einem Königssohne an die Tochter eines Höflings? Sein wegwerfendes, fast verächtliches Benehmen ihrem Vater gegenüber, sowie sein herzloses Betragen gegen Ophelia selbst sagen: Nein". Eine Leidenschaft, wie sie Faust für Margaretha empfand, war es sicherlich nicht; höchstens konnte es eine sogenannte Caprice gewesen sein. Dies scheint übrigens Hamlet selbst einzugestehen, wenn er zur Ophelia geradeheraus sagt, daß er sie nicht geliebt hat, und sich auch nicht für besser giebt, als die Männer im allgemeinen sind, da sie sich nur von der Genußsucht leiten lassen. „Wir sind durchtriebene Schurken, alle, glaube keinem von uns", ruft er ihr zu; wie Mephistopheles vor Gretchen's Fenster singt: „Nehmt euch in acht! Ist es vollbracht, dann gute Nacht, Ihr armen, armen Dinger u. f. w.! Jm Grabe der Ophelia, allerdings, beteuert Hamlet nochmals seine Liebe; aber wäre jene Liebe eine wirkliche und tiefe gewesen, so hätte er seine Geliebte ganz anders behandelt; denn jene schönste unter den himmlischen Gaben wirkt bessernd und veredelnd, wo sie rein und wahrhaftig ist, und das war weder die Liebe Hamlet's zu Ophelia noch die Liebe Faust's zu Gretchen. Hamlet's Bitterkeit gegen die

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Frauen, welche er dann auch auf Ophelia überträgt, erklärt sich am besten aus dem Betragen seiner Mutter; einer Mutter, die allerdings weit davon entfernt war, jenes Ideal darzustellen, in dem sich uns alles Schöne und Gute auf Erden verkörpern soll.

„Zwei Seelen wohnen in meiner Brust“, sagt Faust; das konnte auch Hamlet und mit noch mehr Recht sagen: Wollen und Zagen; und eben jene Zaghaftigkeit ist es, welche ihn zuletzt ins Verderben stürzt und uns verhindert, ein wirklich tiefes Mitleid für ihn zu empfinden. Endlich sei noch darauf hingewiesen, wie selbständig Hamlet auftritt, während Faust fast beständig in vollständiger Abhängigkeit von Mephistopheles vor uns steht. Faust's ganzes Benehmen hat etwas Theatralisches, fast hätte ich gesagt Puppenhaftes und Stelzenhaftes. Wenn mir ein kurz gefaßter Vergleich erlaubt wäre, würde ich sagen: Hier der deutsche Gelehrte, dort der englische Gentleman. Es soll dies absolut kein tadelndes Urteil über Goethe sein, denn wir dürfen nicht vergessen, das Faust eine symbolische Figur ist, die den Geist jener Tage, jene Sturm- und Drangperiode, den Menschen überhaupt in seinem Ringen und Streben nach Licht, Wahrheit und Genuß verkörpern soll. Weiter auf dieses Thema einzugehen, liegt außerhalb des Rahmens dieser kleinen Arbeit.

B. Ophelia und Margaretha.

Das Bild, das uns der Dichter in der Person der Ophelia bietet, leidet ein wenig an Verschwommenheit; dies erklärt denn auch, wie die Meinungen über sie so weit auseinander gehen konnten. So sieht z. B. Goethe in ihr hauptsächlich die füße Sinnlichkeit, verleitet vielleicht durch die zweideutigen, lüstern Lieder, welche sie im Wahnsinn singt, und von denen, wie bereits erwähnt, Goethe eines in freier Uebersetzung dem Mephistopheles in den Mund legt. Es ist ja immerhin möglich, daß Shakespeare mit jenen vielfach getadelten Liedern der natürlichen, weiblichen Sinnlichkeit Ausdruck verleihen wollte, hauptsächlich als Kigel der Sinnlichkeit seines Publikums. Andere sehen in Ophelia wieder eine Kokette. Ich glaube in ihr, soweit meine persönliche Erfahrung reicht, die feine, ruhige, sich selbst beherrschende, englische Miß der gebildeten Mittelklassen zu erkennen, welche sich den Befehlen des gestrengen, absolut waltenden Familienoberhauptes unterwürfig fügt. Man hat es ihr zum Vorwurf gemacht, daß sie Hamlet's unsaubere Wiße beim Zwischenspiel überhaupt verstand und gesagt, daß dies sich nicht leicht mit ihrer Unschuld und Weiblichkeit vereinbaren läßt. Es liegt allerdings ein sehr wahrer Kern darin, in Bezug auf den Charakter der Ophelia selbst; zur Entschuldigung des Dichters läßt sich jedoch verschiedenes einwenden: erstens muß an den ungezwungenen Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern zu Shakespeare's Zeiten erinnert werden; dann muß man sich vergegenwärtigen, daß damals die Frauenrollen durch junge Schauspieler gegeben wurden, was natürlich zu größerer Freiheit im Ausdruck reizte; endlich darf man nicht vergessen, daß das damalige Theaterpublikum, wie das auch anderweitig erwiesen ist, solche gewürzte Speise verlangte, da anständige Damen sich damals überhaupt in kein Theater wagten, oder, wenn es einmal ausnahmsweise geschah, dies nur unter einer Maske thaten. Es ist dies nicht nur durch die zeitgenössische dramatische Litteratur erwiesen, sondern auch durch den Umstand, daß, troß aller Derbheit in der Sprache Shakespeare's, seine Truppe den Titel Schauspieler der Königin" führte und von dem Hofe und der vornehmen Gesellschaft besonders bevorzugt wurde. Dies erklärt vielleicht auch, ähnlich wie bei Goethe, die aristokratisch gefärbten Anschauungen Shakespeare's.

Ein anderer Vorwurf, den man dem Dichter macht, scheint mir besser begründet, nämlich, daß kein genügender Grund zu Ophelia's Wahnsinn vorlag. Hat Ophelia überhaupt den Hamlet wirklich geliebt oder war es nur der Prinz, den sie zu lieben vermeinte? Kein Dichter hat die Liebe des Weibes in so unendlich reichen Schattierungen geschildert, wie der große englische Barde; wenn man aber bedenkt, wie anscheinend

ruhig Ophelia den Wahnsinn ihres Geliebten hinnimmt, so mögen sich jedenfalls Zweifel über die Tiefe ihrer Liebe regen. Wenn man noch hinzufügt, daß Polonius uns keineswegs als ein besonders zärtlicher Vater vorgeführt wird; daß dessen Tötung durch Hamlet nur zufällig und ohne Absicht geschah; daß endlich alle Väter sterblich sind und auch einmal sterben, ohne daß die Kinder wahnsinnig werden, so kann man dem obigen. Vorwurf nicht alle Berechtigung absprechen. Wie ganz anders bei Gretchen! Dort im finstern Kerker, allein mit ihren Gedanken! Die Erinnerung an die Mutter, die sie durch jenen von Faust gegebenen Schlaftrank in einen ewigen Schlaf versenkt hat; die Erinnerung an den Bruder, der für ihre Schuld in den Tod gegangen und sie sterbend noch verfluchte; die Erinnerung an ihr Kind, das sie, in einem Anfall von Verzweiflung, in den Teich geworfen; die Erinnerung endlich an den Geliebten selbst, der sie so ruchlos dem Unglück, der Schande, dem Kerker, ja einem schmachvollen Tode preisgegeben, war das nicht mehr als genug, um einen noch so klaren Verstand zu zerrütten? Und noch läßt Goethe denselben nicht als vollständig umnachtet erscheinen, wie bei Ophelia; denn Gretchen hat Augenblicke des Bewußtseins, wie wir aus jener tief erschütternden Kerkerscene sehen. Daß sie sich weigert, ihrem Geliebten zu folgen, läßt sich eben nur durch jenen mystisch-religiösen Wahnsinn erklären, der es aber dann auch Goethe wieder ermöglicht, sie als ewig gerettet von uns scheiden zu lassen. Wie anmutig, wie lieblich dieses einfache, naiv-unschuldige und unverfälschte Naturkind, diese Mädchenknospe, eine Perle in Goethe's Dichterkrone! Wie herrlich und voller Hingebung ihre Liebe zu Faust! „Qui lira jamais au fond de ce mystère de mobilité et de persévérance, de dissimulation et d'abandon, d'amour et de haine, d'ambition et de dévouement que recèle le coeur d'une femme?" sagt Nizard. Von allen diesen Leidenschaften finden wir bei Gretchen nur eine, die Liebe; sie ist auch die allein echt weibliche. Von Haß gegen Faust finden wir bei ihr auch nicht die geringste Spur, obgleich sie sicherlich doch Veranlassung genug dazu gehabt hätte: Die Liebe läßt sich eben nicht erbittern! Jene vollkommene Weiblichkeit wollte Goethe uns in Gretchen vorführen, und es ist ihm dies auch ganz glänzend gelungen. Goethe war eben, noch mehr als Racine, ein Meister in der Zeichnung weiblicher Charaktere. Es erklärt sich dies sehr leicht. Ganz abgesehen von seiner reichen Erfahrung mit Frauenherzen, hatte er selbst in seiner feinfühligen und dazu hocharistokratischen Natur etwas von der weichen, zartbesaiteten Frauenseele; während der Pinsel seines demokratischen Freundes, Schiller, sich mit viel mehr Glück an Männercharakteren versuchte. Es ist übrigens bekannt, daß der Name Gretchen die erste Jugendliebe Goethe's in Frankfurt verewigt; während das Verhältnis zwischen Faust und Gretchen eher an dasjenige Goethe's mit der Sesenheimer Friederike erinnert, ohne daß er ihr gegenüber jedoch so schuldig wie Faust geworden wäre.

Wie Ophelia in ihrem Geliebten die Verkörperung aller männlichen Tugenden und Vollkommenheiten fieht (A III, Sc. 1, 158-169), so mußte auch Faust's überlegene Bildung und feine Manieren Margaretha mit Bewunderung erfüllen, und von der Bewunderung zur Liebe ist im weiblichen Herzen oft nur ein Schritt. In Marthen's Garten zeigt uns Goethe die gläubige, fromme Seite in Gretchen's Gemüt, was ihm zugleich auch wieder Gelegenheit bietet, den Faust sein eigenes, stark pantheistisch gefärbtes Glaubensbekenntnis ablegen zu lassen. Das innere Strafgericht beginnt für Gretchen bereits am Brunnen, wo die Schlußworte: „Doch alles, was dazu mich trieb, Gott, war so gut! ach, war so lieb!" wieder Zeugnis von der Unverdorbenheit ihres Herzens ablegen; das äußere wird ihr zuerst durch den Mund des für sie sterbenden Bruders. Wie tief die Reue, wie groß der Schmerz, zeigt die Scene im Dome. Endlich tritt in der überwältigenden Schlußscene die Reinheit ihres Herzens nochmals ganz hervor; denn bereits von den Schrecken der Hinrichtung, welche eine irre Phantasie ihr schaudererregend vormalt, mit tiefster Gewalt erfaßt, will sie nicht fliehen, sondern ihr Leben als Sühne für ihre Schuld hingeben, so daß die Stimme von oben: Sie ist gerettet!" tief erlösend auf unser eigenes Gemüt wirkt.

Das strenge über Gretchen verhängte Gericht ist dasjenige des Mittelalters; es steht in direktem Gegenfaze zu Frau von Staël's tiefernstem Worte: Tout comprendre, c'est tout pardonner", welches vielleicht zu weit geht, und in unserer Welt kaum anwendbar sein dürfte. Die moderne Civilisation sucht die Lösung mit Recht zwischen beiden Extremen, und, wo es sich um einen Konflikt zwischen Naturgesetz und Sittengeset handelt, dürfte das schöne Wort des Propheten von Nazareth: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein", ganz besonders seine Anwendung finden.

Es sei hier noch die so ganz aus dem Volksleben gegriffene Figur der Frau Marthe erwähnt, wie man fie naturgetreuer in Shakespeare kaum finden dürfte, die aber in Hamlet keine Parallele hat.

C. Laertes und Valentin.

Wie Laertes, der Bruder der Ophelia, eine Schöpfung Shakespeares, so ist Valentin, der Bruder Gretchens, eine Schöpfung Goethe's. Beide opfern ihr Leben, der Eine um den Tod des Vaters, der Andere um die Ehre der Schwester zu rächen. Hier aber hört auch die Ähnlichkeit zwischen Beiden auf.

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Laertes tritt uns zuerst als ein verständiger, junger Mann entgegen, der, vor seiner Abfahrt nach Paris, die Schwester noch vor ihrem fürstlichen Liebhaber warnt. Die Antwort, womit ihm Ophelia ziemlich scharf heimleuchtet, und die späteren Reden seines Vaters, Polonius, führen uns zum Schluß, daß er auch ein Lebemann war. Sein Auftreten, dem König gegenüber, wenn es gilt den Tod des Vaters zu rächen, zeigt uns in ihm eine tapfere, ritterliche Gestalt, was auch durch seine ausgezeichneten Leistungen in der Fechtkunst bestätigt wird. Nun kommen aber Schattenseiten, die sich mit diesen glänzenden Eigenschaften kaum vereinbaren ließen, wenn man nicht wüßte, wie voller Widersprüche oft der einzelne Mensch ist, und wie unvollkommen überhaupt die menschliche Natur. Bei der Nachricht vom Tode der Schwester kehrt er schon den ruhmredigen und prahlerischen Schwäter heraus, der gern eine feuerige Rede vom Stapel ließe, wenn die Thränen oder vielmehr der Anstand es ihm erlaubten; und am Grabe der Schwester läßt er sich zu solchen überschwenglichen Hyperbeln hinreißen, daß Hamlet sie spottweise noch zu übertreiben sucht. Was endlich von jenem Schurkenstreiche sagen, wo er den vergifteten Degen gegen einen früheren Freund richtet, der seinen Vater unabsichtlich und im angeblichen Wahnsinn erstochen, und gegen die Schwester kein anderes Unrecht hatte, als sie nicht geehelicht zu haben! Er wußte sogar um das in Bereitschaft gehaltene Gift! Soweit kann Leidenschaft und blinder Haß die Stimme der Vernunft und jede edlere Regung in uns ersticken! Am Ende jedoch, als er, mit dem eigenen, vergifteten Degen verwundet, die Schatten des Todes bereits herannahen fühlt, erkennt er die rächende Hand Gottes und stirbt versöhnt mit Hamlet und mit uns selbst.

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Wie ritterlich, diesem schuftigen Edelmann gegenüber, die offene und ehrliche Volksnatur Valentin's, der es gleich mit zweien aufnimmt, aber seinen wahnwißigen Mut auch mit dem Leben bezahlt. Mit der unglücklichen Schwester geht er sterbend vielleicht ein wenig zu streng ins Gericht, und es durfte auf dem Totenbette die Stimme der Natur besser zu ihrem Rechte kommen; er ist eben noch jung, ohne jene Lebenserfahrung, welche uns über so vieles mit wehmütiger Milde hinwegsehen läßt, und die ganze Bitterkeit über sein und der Schwester Schicksal macht sich in seinen Worten Luft. Zugleich dürfte er vielleicht auch, in der Absicht Goethe's, die strafende vox populi (Volksstimme) vertreten, die, unfähig das Herz zu prüfen, die Umstände zu erwägen und in die innersten Beweggründe einzugehen, sich ganz durch den äußern Schein leiten läßt und nur selten auch wirklich die vox Dei (Gottesstimme) ist.

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