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fie, soweit bis jetzt ein abschließendes Urtheil hierüber möglich ist, überall, wo sie einer selbstständigen Entwickelung genoß, den allgemeinen Entwickelungsgesehen literarischen Schaffens, welchen zufolge die poetische Aeußerung vor der prosaischen sich bildete, die Volkspoesie als Wegbahnerin der Kunstdichtung voranschritt und innerhalb der lezteren erst die episch-lyrische, dann die strengepische, hierauf die reinlyrische und endlich die dramatische Form zur Gestaltung und Geltung gelangte. Was das Drama angeht, so muß in Betreff desselben freilich sogleich eine Einschränkung gemacht werden, indem selbst die bedeutendsten dramatischen Anläufe der Orientalen, also die der indischen Dramatiker, das Wesen dieser Kunstgattung nicht erreichten. Denn dieses Wesen beruht auf der freien Selbstbestimmung des Individuums und zu solchem Individualismus ist der orientalische Geist nirgends vollständig gelangt. Nicht im Ormuzddienst, selbst im Jahvethum nicht, von Brahmismus und Buddhismus gar nicht zu reden; und daß vollends der bleierne Fatalismus des Islam nicht geeignet war, die dramatische Poesie zu begünstigen, liegt auf der Hand. Ebenso unzulänglich wie die Dramatik war und blieb die historische Kunst der Orientalen. Ihre Geschichtschreibung ist, mit sehr spärlichen Ausnahmen, nur ein kritikloses Erzählen nach dem Hörensagen, und da der poetische Schmuck im Orient ein wesentliches Zubehör des historischen Stils, so ist einleuchtend, wie leicht hier das Wesen dem Schein geopfert werden konnte und mußte. Alle morgenländische Historik erinnert daher mehr oder weniger an die Geschichte von jenem tatarischen Chan und seinem Spaßzmacher. Der Chan hatte sein Leben und seine Thaten durch seinen Hofhistoriographen beschreiben lassen und gab diesem Werke den Titel „Tausend und eine Wahrheit," worauf ihm sein Spaßmacher als richtigeren Titel „Tausend und ein Märchen" vorschlug, was ihm freilich tausend und einen Streich auf die Fußsohlen eintrug, eine echtorientalische Antikritik einer unliebsamen Kritik.

1.

China.

Die Nationalliteratur eines Volkes ist zugleich Ausfluß und Spiegelung seines Nationalcharakters. Diese Erweiterung des berühmten buffon'schen Arioms: „Le style c'est l'homme!" findet auch auf die Chinesen Anwendung. China nennt sich mit Fug das „Reich der Mitte," denn Zweck und Art seiner vieltausendjährigen Kultur war, zwischen Himmel und Erde die rechte Mitte zu halten. Dieser oberste Grundsatz bestimmte den religiösen, sitt= lichen, sozialen und literarischen Charakter des Chinesenthums. Wir treffen da nichts von Indiens himmelstürmender Entsagung und Selbstpeinigung, nichts

von des Zoroasterthums tapferem und kampffreudigem Haß des Bösen; da ist alles glatt, mild, nüchtern, philisterhaft, mittelmäßig; denn die Tugend liegt in der Mitte," sagt Meng-tse. Maßhalten ist es, was das Universum im Gleichgewicht erhält, weßhalb denn Mäßigung in allen Dingen das Klügste und Beste. So ein chinesisch tugendhafter Philister ist in seiner Art auch so eine niedliche Kleinigkeit, wie die chinesische Lackwaaren- und BeinschnißereiFabrikation sie liefert. Der Chinese in seiner Mittelmäßigkeit, hausbackenen Gemüthlichkeit und umständlichen Höflichkeit wäre das Urbild eines Fanatikers der Ordnung, falls er überhaupt Fanatiker sein könnte. Jedoch war und ist das chinesische Evangelium der Mittelmäßigkeit weit entfernt, alle seine Bekenner bei seinen Lehren festzuhalten. Im Schlechten und Frevelhaften hat auch China Extreme ausgebrütet. Wir wissen von chinesischen Kaisern, welche einen Zeitvertreib darin suchten, schwangeren Frauen den Leib aufschneiden, ihre Maitressen lebendig sieden, ihre Höflinge rösten zu lassen. Die höheren Stände waren schon frühzeitig durch die Bank verderbt. Weibische Eitelkeit und hofräthlicher Dekorationsschwindel, kriechende Niederträchtigkeit nach oben, brutaler Hochmuth nach unten, Falschheit und Heuchelei, Feilheit und Feigheit, Habsucht und raffinirte Wollust, das sind die Früchte, welche die chinesische Sittlichkeit in der Hof- und Beamtenwelt zeitigte.

Unter dem Volke hat mehr Einfachheit und Wahrhaftigkeit sich erhalten; mit einer fast beispiellosen Arbeitsamkeit verbindet sich in diesen Kreisen Genügsamkeit und ein gewisser leichter Lebensmuth, der aber auch leicht in sein Gegentheil umschlägt: Selbstmord ist unter allen Ständen sehr häufig. Als Höchstes schäßt der Chinese das Familienglück. Die Ehe ist ihm ein wichtiger, durch sorgfältige gesetzliche Bestimmungen geregelter Akt. Die Frau hat in China eine soziale Stellung und Geltung wie sonst in keinem Lande des Orients. Weibliche Sittsamkeit und Treue wird hoch gepriesen, das leicht= verlegbare Wesen echter Weiblichkeit in zarten Bildern dargestellt. Das Verhältniß zwischen Eltern und Kindern ist ein inniges, und wie die Pflicht der Erziehung auf seiten der Eltern für eine heilige gilt, so auf seiten der Kinder die Fürsorge für das Alter der Eltern. Familienhaftigkeit und Familienpietät, die Glanzpunkte des Chinesenthums, sind zugleich die bestimmen= den Elemente des Chinesenthums, sind zugleich die bestimmenden Elemente der staatlichen und literarischen Entwicklung desselben. Aber freilich wurden und werden Ehe- und Familienleben stark beeinträchtigt durch die Vielweiberei der Vornehmen sowie durch das gräuelvoll wuchernde Prostitutionswesen. Als kleinzugeschnitten, gekünstelt, bizarr, verschnörkelt bezeichnen alle denkenden und unparteiischen Beobachter das Wesen der chinesischen Gesellschaft. Man kann die in steifem Zopfstil sich bewegende oder vielmehr beharrende das Rokoko der Menschheit nennen. Da der chinesischen Weltanschauung zufolge die irdische Bestimmung des Menschen seine wahre und einzige und ihm die Erde zur Er

füllung seiner Bestimmung angewiesen ist, so findet der Chinese die Verwirklichung seines Ideals im Staat und zwar im chinesischen Staat, welcher als virklich gewordene Vernunft keinen andern als gleichberechtigt anerkennt. Nur der Chinese ist ein mit Vernunft und Bildung begabter Mensch, weil er chinefiicher Staatsunterthan; alle übrigen Völker sind und bleiben Barbaren. Der Staat ist das Abbild des ewigen Zweifachen, Hang (Himmel) und Yn (Erde). Der Kaiser repräsentirt den Himmel, das Volk die Erde. Zwischen Himmel und Erde, d. H. zwischen Thron und Volk, bildet die strenggegliederte Beamtenhierarchie (Mandarinenthum) eine Mittelstufe. Staat und Kirche, Mandarinenthum und Priesterthum sind eins, das bürgerliche Gesez ist das Sittengesetz, Gehorsam gegen die Staatsgeseße ist Frömmigkeit.

Die Sage will, um das Jahr 2950 v. Chr. habe Fo-hi unter dem von den Gebirgen Hochasiens nach China herabgestiegenen Volke durch Einführung ter Ehe und anderer Ordnungen den chinesischen Staat begründet. Um 2350 v. Chr. habe dann Yao diesen Staat auf patriarchalisch-bureaukratischer Grundlage neu organisirt. Mit dem Yo beginnt um das Jahr 2200 v. Chr. die Dynastie Hia und hebt zugleich die strikte Verwirklichung der auf unbedingte Bevormundung des Volkes gerichteten chinesischen Staatsidee an. Da wir erst hier auf historischem Boden stehen, so sehen wir also schon bei den Anfängen seiner Geschichte das chinesische Volk unter die bureaukratische Schablone gebracht. Daraus erklärt sich, daß schon in den älteren und ältesten Ueberlieferungen der Chinesen nicht etwa, wie in denen anderer Völker, das Wunderbare und Heroische vorschlägt, sondern ein praktisch-verständiger Ton um nicht zu sagen ein nüchtern-philisterhafter. Es ist charakteristisch, daß China eigentlich gar keine Heldensage besitzt. Sogar schon das Dichten und Trachten der Fürsten seiner Sagengeschichte ist vielmehr ein prosaisch-schulmeisterliches als heldenhaftes, civilisatorisch allerdings, aber auch erzpedantisch und bureaukratisch. China's Helden sind Polizeikommissäre, seine Heroologie ist ein Koder von Verwaltungsedikten.

Wie immer es sich mit dem gepriesenen Patriarchalismus des chinesischen Systems in den Urzeiten verhalten haben mag, gewiß ist, dieses System war im 6. Jahrhundert v.. Chr. einer so vollen Verderbniß verfallen, daß eine durchgreifende Reform dringend nöthig wurde. Der Reformer fand sich in Kong-futse oder Kong-tse, latinisirt Konfucius (550—479 v. Chr.). Jm Staatsdienst stehend, beschäftigte sich dieser ausgezeichnete Mann viel mit den alten Ueberlieferungen, sammelte, sichtete, ordnete und ergänzte die alten Schriftdenkmäler der chinesischen Kultur und trat dann, mit diesen Dokumenten ausgerüstet, als Religions- und Sittenlehrer unter seine verwilderten Zeitgenossen, ganz im chinesisch-konservativen Geist erklärend, daß er nicht als Neuerer komme, sondern nur als Erneuerer des Alten („Ich streue nur gleich dem Landmann empfangenen Samen unverändert in die Erde"). Das Loos aller

bedeutenden Menschen: Verkennung, Undank, Elend und Verfolgung, wurde auch ihm nicht erspart; aber sein Werk überlebte ihn und die dankbare Nachwelt verehrte ihn als Fürsten der Weisheit." Unter den Erläuterern und Ergänzern von Kong-tse's Staatsphilosophie stehen Meng-tse (um 360 v. Chr.) und Tschu-tse (um 1150 n. Chr.) voran. Im Gegensaß zu der nationalchinesischen, durchaus auf das Diesseits und die Wirklichkeit gestellten Religions- und Staatslehre des Kong-tse, hatte der etwas ältere Zeitgenosse desselben Lao-tse (geb. zu Ende des 7. Jahrh. v. Chr.), eine Sekte gestiftet, deren Grundsäge in dem „Tao-te-king“ niedergelegt sind. Diese Tao-Religion (Vernunftreligion) scheint aus dem Brahmismus entsprungen zu sein. Lao-tse lehrte nämlich, der konkreten Vielheit der Dinge liegt eine abstrakte Einheit zu Grunde, die Vernunft (Tao, ganz ähnlich dem indischen Tad, Aum, Brahm). Es ist dies die Wurzel aller Wesen, es zweigt sich in die Dinge aus. Aber diese Auszweigung des Tao ist nur eine unwahre, scheinbare, d. h. die Welt der Erscheinungen ist nichtig und durch Verneinung derselben, durch gänzliches Sichversenken in sich selbst muß der Mensch diese Nichtigkeit, diesen Schein aufheben und zur Wiedervereinigung mit dem Tao nach dem Tode sich reif machen 1).

Die Urkunden der geistigen Arbeit von Alt-China, wie Kong-tse sie ge= sammelt und redigirt hat, bilden die heiligen King (Bücher 2) des Reiches der Mitte. Ihr wesentlicher Inhalt mag an 18 Jahrhunderte älter sein als der chinesische Reformator. Unter diesen King sind an Autorität drei vortretend: 1) ber -king, dunkle, nachmals moralisch ausgelegte Andeutungen über Entstehung und Wesen der Natur enthaltend; 2) der Schu-king, welcher die alte, auf Yao zurückgeführte, mit politischen Betrachtungen und moralischen Marimen durchflochtene Reichsgeschichte erzählt; 3) der Schi-king, das_nationale Liederbuch, dessen älteste Stücke in das 14. Jahrhundert v. Chr. hinauf, dessen jüngste, später hinzugefügte Lieder in das 7. Jahrhundert n. Chr. herab reichen 3). Der Schi-king enthält in einer Sammlung von 305 Gedichten

1) Vgl. Lao-tse: Tao-te-king (der Weg zur Tugend), aus dem Chinesischen überseßt und erklärt von R. v. Pländner, 1870.

2) King bedeutet zunächst einen langen Faden, den Aufzug des Gewebes, die Nichtschnur in doppeltem Sinne und ganz gut und bezeichnend könnten wir es durch Leitfaden überseßen, der wirkliche Faden sowohl, der uns die Direktion gibt, als auch das Buch, durch welches wir eine Anleitung bekommen sollen. Endlich wird es die Norm, Saßung, ein Buch von kanonischem Ansehen, ein klassisches Buch. Pländner a. a. D. IX.

3) Y-king, ex interpretat. Regis ed. J. Mohl, 1834. Chou-king, trad. par Gaubil, révu par De Guignes, 1770. Chi-king, ex lat. P. Lacharme interpret. ed. J. Mohl, 1830. Echi-king, dem Deutschen angeeignet von Fr. Rüdert, 1833. Schi-king, nach Lacharme's lat. Uebertrag. bearb. von J. Kramer, 1844. Ueber die literar. Geschichte der Chinesen vgl. Schott, Die Werke d. chines. Weisen Kong-fu-tse und

viel Schönes und er ist eine ganz eigenthümliche, durchaus nationale, lyrische Abspiegelung des chinesischen Lebens. Keine Frage, dieses Liederbuch, weitaus das beste Resultat der geistigen Kultur China's, läßt uns in ein bewegtes, farbenhelles, sinniges Treiben blicken. In klaren, oft majestätisch anschwellenden, dann wieder elegisch trauernden und zuweilen scherzhaft kichernden Liedern und Bildern zeichnet es die Einfachheit, Würde und Anmuth des altchinesischen Volkslebens. In erhabenen Strophen wird das Walten der höchsten Himmelsgewalt geschildert, in reizenden Wendungen das Geplauder der Liebe wiedergegeben oder der hohe Werth weiblicher Reinheit und Tugend gepriesen. Das Schmerzgefühl der Armen und Unterdrückten macht sich laut neben den Klagen verrathener und gebrochener Herzen. Die alte Reichsgeschichte wird in Nomanzen lebendig, der patriotische Eifer erhebt sich mit eindringlichen Mahnungen gegen den staatlichen und fittlichen Verfall, Schranzen und Schmaroßer werden satirisch gegeißelt, Weichlinge und Wüstlinge verwünscht, die Lehren alter Weisheit gnomisch zugespitzt und auch Wit und Humor entfalten mitunter ihre Schwingen.

Mit dieser im Schi-king niedergelegten Volkspoesie hält die spätere Kunstdichtung der Chinesen keine Vergleichung aus. Das Jdeal der Mittelmäßigkeit hatte seine Wirkung gethan, d. h. es hatte in einer starren Stabiliät seine Verwirklichung gefunden. Wie die Gesammtbildung, wie alle literarische Thätigkeit, so wurde auch die Dichtung Sache der bloßen Konvenienz, unterworfen einem geisttödtenden Formalzwang, einem dürren und lästigen Ceremonică. Die Literatur hat unermeßliche Massen von beschriebenem und bedrucktem Papier aufgehäuft, aber geschaffen eigentlich sehr wenig. China, die realisirte Idee des Polizeistaats, ist unter dem Druck bureaukratischer Despotie so verkommen, daß das gesammte chinesische Staatsleben im Frieden und Krieg nur noch eine traurige Komödie. Das Land zeigt recht klärlich, wohin das patriarchalische, auf die väterliche Gewalt basirte Staatsprinzip zuleht führe. Die Kinder find herangewachsen, und weil man sie trotzdem seit 2000 Jahren als Kinder behandelte, sind sie kindisch geworden. In Wahrheit, China hat in seiner Verknöcherung etwas Greisenhaft-Kindisches, welches Mitleid erregen würde, wenn die bombastische Bizarrerie, hinter welcher er sich versteckt, nicht gar so lächerlich wäre.

Als Norm- und Formgeber der chinesischen Kunstpoesie, welche beim Mangel einer Heldensage auch kein Epos erzeugen konnte, gelten die beiden Peeten Tu-fu und Li-thai-pe, deren Lebenszeit in das 8. Jahrhundert

seiner Schüler, aus d. Ursprache überseßt; Klaproth, Asiatisches Magazin, Bd. 2; Davy, On the poetry of the Chinese; Rémusat, Mélanges asiatiques und Nouveaux mélanges asiatiques; M. Müller, Essays, 1869.

Scherr, Allgem. Gesch. d Literatur. L

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