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feinen Lebenswandel nicht nach den Vorschriften einer abstracten Vernunft einrichten kann? Weit billiger scheint Ihnen die menschenfreundliche Nachsicht der bürgerlichen Richter, welche den Menschen nach den Schwachheiten beurtheilen, die von seiner Menschheit unzertrennlich sind, und ihren Untergebenen oft solche Vergehen verzeihen, die ein strenger Weltweiser auf das schårfste` geahndet haben würde.

Ich will mich bei dieser allgemeinen Anklage wider alle systematischen Sittenlehren ein wenig aufhalten, bevor ich zu der Anwendung komme, die Sie davon auf meinen Beweis machen.

Philosophen und bürgerliche Richter haben sich einerlei Absicht zum Ziel geseht; nur in den Mitteln, deren sie sich zu dieser Absicht bedienen, weichen sie von einander ab. Sie haben sich einerlei Absicht zum Ziele gesest: sie wollen Blödsinnige, denen es sowohl an Einsicht, als an Geschmack fehlt, die innere Schönheit der rechtschaffnen Handlungen wahrzunehmen, zu ihrer Pflicht anhalten, und das moralisch Gute auf Erden befördern. Nun kann dieses auf zweierlei Art geschehen. Man veråndert entweder die Beschaffenheit der Handlungen, indem man gewisse, willkührlich angenehme oder unangenehme Empfindungen mit ihnen verbindet, und dadurch dem innerlichen Werthe oder Unwerthe der Handlungen ein größeres Gewicht giebt; oder man läßt die Natur der Handlungen, wie sie ist, und verändert die Vorstellung, die sich derjenige von ihnen macht, der sie ausüben oder unterlassen soll. Jenes thut der Richter; und die sinnlichen Schmerzen, die durch willkührliche Sahungen mit gewissen Handlungen verbunden werden (haben Sie immer Geduld mit meinen metaphysischen Distinctionen!), werden bürgerliche Strafen ge= nannt. Man sieht also, daß diese Art, die Menschen zu ihren Pflichten anzuhalten, für sich betrachtet, die Anzahl der Übel in der Natur vermehrt; allein sie ist löblich; sie ist unentbehrlich, weil sich der größte Haufen der Menschen von keiner vernünftigen Vorstellung lenken läßt, und nothwendig durch gewaltfame Mittel angetrieben werden muß. Wo der Begriff, den man sich von der Beschaffenheit der Handlung macht, nicht vers bessert werden kann, da muß die Sittlichkeit der Handlung selbst thätiger gemacht werden.

Wird also eine jede Abweichung von dem Geseße der Natur zu bestrafen seyn? Keinesweges! nur solche, die durch kleinere

physische Übel zu hintertreiben sind. Die Summe des wirklichen Guten muß durch die willkührlichen Strafen vermehrt werden; und wer außer diesem Falle die Menschen mit seiner Strafgerech tigkeit plagt, der muß an dem physischen Übel ein wildes Ges fallen finden. Wollten wir diesen einen Weltweisen nennen?

Wo wird also der Fall hingehören, wenn unsre Leidenschaft z. B. durch einen gerechten Schmerz in Flammen gesezt wird? Nothwendig zu der Zahl derjenigen Abweichungen und Sünden wider die Gefeße der Natur, wovon der größte Haufen der Menschen nicht anders als durch größere physische übel ab zuhalten ist. Jene reichen also über die Gränzen der Strafgerechtigkeit hinaus; und es ist nicht ein bloßer mitleidiger Trieb, es ist ein Vernunftschluß, der die bürgerlichen Richter abhält, solche Schwachheiten mit Strafe zu belegen.

Sollte aber die innerliche Sittlichkeit da aufhören, wo die bürgerliche Strafgerechtigkeit aufhört? Ist eine Handlung, wozu uns ein gerechter Schmerz (justus dolor) antreibt, deswegen an= ständig? ist sie tugendhaft? ist sie richtig? Oder ist sie deswegen rechtschaffen, weil sie nicht zu bestrafen ist? Keinesweges! Das Gebiet der innern Sittlichkeit ist unumschränkt; es erstreckt sich auf alle unsere Handlungen ohne Ausnahme; auf die innern, auf die äußerlichen, auf die kleinern Handlungen, woraus andere zusammengesezt sind; und sogar auf die entferntesten, die auf unsern gegenwärtigen Wandel nur den mindesten Einfluß haben, weil die kleinsten Umstände zu der völligen Rechtschaffenheit einer Handlung das Ihrige beitragen. Ja ich will beweisen, daß ein Weltweiser, der die innere Sittlichkeit in ihrem ganzen Umfange betrachtet, etwas mehr vorhat als eine bloße Speculation, wenn man ja alle Speculationen aus der Sittenlehre verbannen will.

Bei einer jeden moralisch bösen Handlung, die wir mit Vorsaß unterlassen, machen wir stillschweigend folgenden Vernunftschluß: „diese Handlung läuft wider das Gefeß der Natur, also will ich sie verabscheuen." Der theoretische Sittenlehrer macht die Handlungen namhaft, die mit den Gesehen der Natur streiten; und er beweist nach aller Strenge, in welchem Falle eine Handlung richtig, anständig, erhaben und tugendhaft sei; ohne sich zu den menschlichen Schwachheiten herunterzulaffen, ohne dem Sünder Beweggründe an die Hand zu geben, die nach seiner elenden Denkart zugeschnitten sind. Er beschäftigt sich mit der wahren Würde der menschlichen Natur; und seine Vorschriften

müssen sowohl von dem bürgerlichen Richter, als von dem practischen Sittenlehrer angenommen, ja fogar, wie ich erweisen werde, vorausgeseßt werden.

Indeß sind seine abstracten Lehren in manchen Fällen zwar richtig, aber nicht wirksam; zwar erweisend, aber nicht thätig genug, die Menschen mit Beweggründen zu ihren Handlungen zu versehen. Wenn sich Sinn und Affecten wider unsre Vernunft zusammenrotten, wenn sie sich vereinigen, durch dunkle Empfindungen dem Laster einen Schein der Schönheit anzustreichen; so unterliegt die Speculation, die noch in unserm Ge= müth nicht rechte Wurzel geschlagen, die sich noch nicht, so zu sagen, unserm Blute einverleibt hat. Hier erscheint der bürgerliche Richter und der practische Weltweise; sie erregen Empfindungen wider Empfindungen. Sie vermehren die Anzahl oder verstärken den Nachdruck der Beweggründe zum Guten, und unterstüßen die Wahl, die der theoretische Weltweise zwischen unsern Handlungen getroffen hat. Der bürgerliche Richter zerschneidet den Knoten. Wir haben ges hen, daß seine Hülfe mit den gewaltsamen Ope: rationen eines Wundarztes verglichen werden kann, die in manchen Fällen den Kranken mehr Schmerzen verursachen, als sie wirklich heilen.

Ganz anders verfährt der practische Weltweise. Er vermehrt nicht eine Art von übel, um ein anderes zu vermindern; nein! er bedient sich gelinderer Mittel. Er verordnet uns: die abstracten Lehren, die der theoretische Sittenlehrer herausgebracht, öfter zu überdenken, täglich mit andern Wahrheiten zu verbinden, und in nüchternen Tagen, wenn uns keine Leidenschaft widersteht, unsere Handlungen danach einzurichten. Hierdurch erlangen wir eine Fertigkeit, uns nach dieser erkannten Wahrheit zu bestimmen. Unsere Wahl des Guten wird zu einer Art von Instinct; und wenn alsdann die Leidenschaften in uns stürmen, so ist diese moralische Wahrheit nicht mehr eine bloß abstracte Spe= culation, die in unserer Seele einzeln zur Gegenwehr dahingestellt ist, sondern sie stellt sich unserm Gemüthe in Verknüpfung mit unzähligen andern Wahrheiten, mit unzähligen kleinen Handlungen vor, die wir nach ihrer Veranlassung ausgeübt haben. Alle diese Vorstellungen zusammen verwandeln sich in einen Affect; es stehen Empfindungen wider Empfindungen auf; und wenn die Leidenschaft nicht allzu heftig ist, so kann sie se sehr durch die Gegenwirkung des guten Affects geschwächt werden,

daß ihr nicht mehr Speculation.

Thätigkeit bleibt, als sonst einer bloßen

Es ist wahr, kein Mensch kann alle seine moralischen Gefinnungen zu einer Fertigkeit erheben. In der kurzen, in der unståten Zeit, die ihm auf Erden bestimmt ist, müssen nothwendig bei ihm manche Wahrheiten unfruchtbar, und die Erkenntniß derselben todt bleiben. Ja es kann in gewissen Fällen eine ungewöhnliche Leidenschaft entstehen, die desto gefährlicher ist, je weniger man sie erwartet, und die dadurch dem besten Vorsage Trok bieten kann. In diesem Falle ist seine Schwachheit eine menschliche Schwachheit, und sein Fehler ein unüberwindlicher Fehler. Wollen wir aber, aus Herablassung zu unserer verdorbenen Natur, uns ein falsches Ziel sehen? Wollen wir nicht unser Augenmerk auf eine vollkommne Sittlichkeit richten, und ihr mit allen Kräften immer näher zu kommen ringen? Haben fich nicht alle große Genies in den schönen Künsten wohl dabei befunden, daß sie sich eine vollkommene Schönheit eingebildet, ob sie sie gleich in der Ausübung nie völlig erreicht haben? Nur seichte Geister stellen sich menschliche Kunststücke zum Muster vor, die niemals ohne alle Fehler sind, und ahmen sie bis auf ihre Schwachheiten nach. Was Künstlern Vortheil gebracht hat, dessen kann sich der Sittenlehrer mit mehrerem Rechte bedienen. Man beschuldigt die Weltweisen, sie sehten allzu viel auf die Vernunft; und wahrlich! der muß mehr Zutrauen zu seinen Einsichten haben, der sich von der abstractesten moralischen Wahrheit zu behaupten getrauet, es würde sie nie ein Mensch erkennen; d. h. es könnte Niemand aus derselben Beweggründe zu seiner Handlung hernehmen.

Vielleicht habe ich dieses ohne Nußen so weitläuftig ausgeführt. Ich kann sicher voraussehen, Sie, mein Freund! find in allen diesen Stücken mit mir einig; Sie sind ebenso sehr von der Vortrefflichkeit der theoretischen Sittenlehre überzeugt, als ich es zu seyn glaube. Wenn dieses aber ist, wie haben Sie von mir fordern können, ich hätte Empfindung gegen Empfindung, Hoffnung gegen Hoffnung, und Furcht gegen Furcht zu Felde stellen sollen? Wie hätte ich eine Wahrheit practisch ausführen können, bevor ich außer Zweifel gefeßt, daß sie theoretisch richtig sei? Würde ich nicht schnurstracks wider meine Absicht gehandelt haben?

Ehe der Sittenlehrer sich bestreben darf, unsere Empfindungen zum Besten einer guten Handlung in Bewegung zu

sehen, muß er erst selbst überzeugt seyn, daß die Handlung gut sei. So lange seine Begriffe noch schwankend find, muß er sich hüten, die Triebfedern der Empfindungen rege zu machen, wenn er nicht Gefahr laufen will, wider seine Absicht eine böse Handlung zu befördern. Ihr Gleichniß selbst soll mir zum Beispiel dienen. Man kann keinen Wollüstling von seiner viehischen Lebensart entwöhnen, ohne seiner Luft eine überwiegende Furcht einer bevorstehenden Unlust, oder eine gewisse Hoffnung eines höhern Vergnügens entgegenzustellen. Muß ich aber nicht, der ich einen Wollüstling von seiner niedrigen Lebensart abbringen will, erst selbst überzeugt seyn, daß es Sünde sei, ein wollüstiges Leben zu führen? Und muß ich diese Überzeugung nicht in der demonstrativen Sittenlehre suchen? Es ist also gewiß: eine jede practische Wahrheit seht eine theoretische voraus, die auf triftige Gründe gebaut, und unumstößlich bewiesen seyn muß; und die Theorie in der Sittenlehre ist eben so unentbehrlich, als die Theorie in der Meßkunst, ob sie uns gleich beide noch die Kunstgriffe nicht zeigen, wie ihre abstracten Lehren in der Ausübung anzuwenden sind.

Und dieses war meine Absicht, als ich mir vornahm, die Zulässigkeit des Selbstmordes aus metaphysischen Gründen zu bestreiten. Ich wollte in dieser Sache nur gleichsam den Grundstein zur völligen überzeugung legen. Ich wußte es, daß mein Beweis, und wenn er auch völlig richtig ist, von einer practischen Wahrheit noch weit entfernt sei; aber ich hielt dafür, eine jede moralische Wahrheit müsse erst theoretisch richtig seyn, bevor fie der practische Sittenlehrer zur Ausübung bequemen darf. Andere mögen nun für eine jede Art von Unglück neue Trostgründe ausfindig machen und sie mit der nachdrücklichsten Beredsamkeit unterstüßen; Andere mögen in die verschiedenen Gemüther der Menschen eindringen, um die Wunden, welche die Leidenschaften darin geschlagen haben, durch bequeme Mittel zu heilen. Die dieses unternehmen und ausführen, verdienen, Wohlthåter der Menschen genannt zu werden; sie leisten ungleich mehr, als ich geleistet habe; und ich gestehe es, daß es mir sowohl an Einsicht in die einzelnen Charaktere der Menschen und in die Welthåndel, als an Geschicklichkeit gefehlt hat, mich so nahe an die ausübende Sittenlehre zu wagen. Indeß muß doch immer der Untersag zum Grunde gelegt werden: der Selbstmord streitet wider die Gefeße der Natur;" weil dieses die

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